Alt und verbittert
Mein Geburtstag. Treptower Park. Das Telefon klingelt. Ein Anruf. Die keifende Stimme meiner Oma: "Bist du in Berlin! Seit wann. Wo bist du jetzt. Hast du nichts von dem Streik gehört. Das ist doch seit Tagen in den Nachrichten. Du siehst nicht Fern? Na aber im Radio. Das muss man doch mitbekommen!" Ähm. Oma? Ich habe Geburtstag, wie wäre es mit einem Happy Birthday? Erst als ich mitteile, dass ich sie eigentlich besuchen wollte und schon auf ihren Anruf gewartet habe, lenkt sie ein, wünscht mir alles Gute und gibt mir einen Einstieg für meinen Vorwurf - worauf sie nur verlegen über meine Direktheit lacht und darüber, dass ich Recht habe. Mein Vater möchte immer, dass ich mich häufiger bei meinen Großeltern melde. Er macht sich große Sorgen. Leben will meine Oma schon lange nicht mehr. Seit meiner Geburt ist sie krank und kann sich nicht selbst beschäftigen, hat keine Hobbies, keine gute Bildung. ...Dort angekommen, werde ich Zeuge eines ehelichen Dramas, wie immer in der letzten Zeit. Meine Oma sitzt auf dem Sessel, wie auf einem Thron, seitlich ihre Krücken, kommandiert meinen Opa umher: zwei Stücken Sahnetorte und Sahne obendrauf, Sahne in den Kaffee, mehr. Alles ist egal. Wieder verhörartige Fragen und Rumgekeife zu meinem Opa, der für sie umherspringt, ihr Kusshände zuwirft und wie immer versucht, sie aufzumuntern und mit ihr zu flirten. Er singt und tanzt gern, aber nichtmehr in letzter Zeit. Jetzt will auch er nicht mehr leben. Die körperlichen Beschwerden halten Einzug, jetzt wo die angeschlagene Psyche dem Einlass gewährt. Wenn er sagt: Helga, mecker nicht immer soviel, oder Helga, mach mich nicht immer so fertig, macht sie weiter. Und DAS ist das Problem. Man könnte sagen: Alte Leute bemerken ihren rauhen Tonfall nichtmehr, aber spätenstens die Rückmeldung gibt doch Anlass zum Nachdenken und Einlenken. Nicht aber bei ihr. Sie nimmt ihre Gemeinheiten bewusst wahr und setzt noch einen drauf. Wenn sie bisher nicht sterben konnte, dann vielleicht durch das viele Fett, den Zucker oder dadurch, dass sie von ihrem Ehemann erschlagen wird, weil er die Demütigungen nichtmehr erträgt. ...Er geht in die Küche und kommt mir einer Salami zurück. Er schneidet mir ein Stük ab und will es für unterwegs verpacken. Sie sagt, nimm Alufolie. Er ist ein bißchen schwerhörig. Zurück kommt er mit der Salami in Klarsichtfolie. Gerade als er sie in eine Platiktüte stecken will, entbrennt der nächtse Streit. "Die Salami schwitzt! Ich hab doch gesagt in Alufolie." "Helga, die Salami schwitzt nicht." Aber am Ende, wird die Salami in Alufolie verpackt. Warum gibt er nach? Soll sie doch selber aufstehen und die Salami einpacken! Und ich frage mich, warum ich überhaupt noch zu Besuch komme. Es wird immer unangenehmer. Wenn ich sage, dass sie nicht soviel streiten sollen, bin ich plötzlich diejenige, die meckert. Also eines weiß ich: Alt werden, das geht anders.

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