Generationen
Heute habe ich im Tagebuch meiner Oma gelesen. Es ist mein größter Schatz. Meine Mutter hat es mir vor zwei Tagen überreicht. Die Einträge entstanden während eines Kinikaufenthalts. Ich denke mir, hätte ich von alldem gewusst, hätte meine Oma doch nur darüber gesprochen, wäre ihr Leben viel schöner und andere Menschen ihr viel näher gewesen. Heute entdecke ich Verhaltensmuster bei meiner Mutter und auch bei mir. Die kommen von ihr und von vielen Generationen davor. Aber nichts ist überliefert, nichts wird kommuniziert. Wie soll ich den Teufelkreis durchbrechen? Wie soll ich ein glücklicheres Leben führen und mich selbst verstehen? Ohne die eigene Geschichte, die Familiengeschichte zu kennen, gibt es keine vollständig aufgeklärte Identität. Und ich kann nichts daran ändern. Sie ist tot, meine Oma ist tot, mein Opa ist tot, und ihre älteste Tochter hat sich schon vor langer Zeit umgebracht, meine Mutter will sich an nichts erinnern. Es gibt soviele Familiengeheimnisse, die nun niemals gelöst werden können. Ist es deshalb wichtig ein Tagebuch zu schreiben? Und damit Informationen an nachfolgende Generationen zu überliefern? Es gibt immer Dinge, die erzählen sich schwer, da traut man niemandem über den Weg. Zumindest denkt das unsere Familie, es ist in unserem familiären Verhaltensgedächtnis abgespeichert... Wenn ich das Tagebuch lese, fühle ich mir ihr so nah und ich mag sie so sehr, für ihre Ängste und Zerrissenheiten. Denn bei allden Problemen ist sie liebenswert und gebildet und belesen. Ich habe ihr Auto geerbt. Wenn ich damit umherfahren, spüre ich sie manchmal ganz nah bei mir, die kleine Drahtkatze am Rückspiegel, ihre riesige Sonnenbrille (made in Katowice 1967!)... Sie ist da. Von ihr habe ich soviele Bücher und nun auch ihre Gedanken. Ich frage mich, warum meine Mutter ein komplett anderes Leben führt als sie. Meine Familie ist eher intellektuell, aber sie hat sich für ein einfaches Leben ohne viele Fragen entschieden, mit einfachen Menschen. Und so musste ich aufwachsen, all diese Gleichgültigkeit, diese Antrieblosigkeit. Gibt es nichts, dass dich bewegt? Aufregt? Begeistert? Staunen lässt und atemlos macht? Fasziniert dich die Komplexität und Unendlichkeit dieser Welt denn nicht? Und gleichzeitig weiß ich, dass ich dir diesen Vorwurf nicht machen kann, denn ich kann nicht ermessen, was damals mit dir geschehen ist. Anscheinend soviel, dass du dich in deiner ganzen Absolutheit davon abwendest und vergessen willst. Aber weißt du was? Das Leben geht weiter und während man Altlasten mitsich rumschleppt, macht man neue Fehler, die man nicht erkennt, weil man sich selbst nicht versteht, weil man das alles nicht verarbeitet hat. Es wird höchste Zeit, alles zu klären. Das werde ich nun tun. Das hat dir ja noch nie gefallen, dass ich immer alles ausspreche. Für unsere Familie wird es gut sein. Wenn nicht für diese, dann für die nächste Generation.

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